fbpx

taz: „Der gute Wille der Profiteure“

Geld regiert die Welt – doch die Politik hat die Pflicht, weltweite Regeln für faire Geschäfte durchzusetzen. Denn Wirtschaftsethik auf freiwilliger Basis funktioniert nicht.

Wer steuert eigentlich die Welt? „Dunkle Mächte“ raunt der Verschwörungstheoretiker, „gewisse Kreise“, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Der Gläubige glaubt an den „Allmächtigen“ als Weltenlenker, ob der nun Jahwe, Allah oder George W. Bush heißt. Der Volksmund aber weiß: „Das Geld regiert die Welt.“

Messen wir diese letzte Behauptung einmal an den Fakten. Dem Washingtoner Institut für Politikstudien zufolge befinden sich unter den 100 größten Wirtschaftsmächten der Welt bereits mehr Unternehmen als Staaten. Heißt das nun, dass der Globus bereits von den multinationalen Konzernen gesteuert wird? Wenn wir uns die Liste genauer anschauen, sehen wir, dass sie noch immer von Staaten angeführt wird, deren Regierungen zum Großteil demokratisch legitimiert sind. In diesen Ländern, so steht es in den Verfassungen, geht alle Macht vom Volk aus. Und fast alle Großkonzerne, die angeblich die Welt beherrschen, haben ihren Hauptsitz ebenfalls in diesen wirtschaftlich starken Demokratien.

Was also läge näher, als dass diese mächtigen Regierungen die Unternehmen ihrer Länder an die Einhaltung jener Spielregeln binden, die die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bilden? In der Tat herrscht in den meisten demokratischen Industrieländern ein ansehnliches Maß an Wohlstand und sozialem Ausgleich. Doch das gilt eben nur für diese Länder selbst. Der holländisch-britische Konzern Shell ist der größte Förderer der Sonnenenergie – allerdings nur in Europa. In Nigeria betreibt Shell seine Erdölanlagen mit technischen Standards, die bei uns längst verboten sind. Adidas und Siemens beachten in Deutschland selbstverständlich die geltenden sozialen und ökologischen Gesetze. In Asien hingegen profitieren sie von Kinderarbeit oder der Vertreibung von Millionen von Menschen.

Die Schuld daran liegt bei den Regierungen dieser Länder, wenden nun manche Wirtschaftsvertreter ein. Es sei eben nicht die Aufgabe von Unternehmen, Politik zu machen. Damit hätten sie sogar Recht – wenn sie tatsächlich keine Politik machen würden. Verschwiegen wird nämlich, dass politisches Lobbying bis hin zur Erpressung und Korruption längst das Verhältnis zu den Heimat- und Gastgeberregierungen multinationaler Konzerne bestimmt. Dass die korruptesten Regime der Welt ihre Macht nahezu ausschließlich den Rohstofflizenzen multinationaler Unternehmen verdanken. Und letztendlich, dass Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen wie Weltwährungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation genau jene Regierungen, denen hier die moralische Verantwortung zugeschoben wird, zu den Dienern westlicher Wirtschaftsinteressen machen.

Dennoch wird die Welt immer demokratischer, wie der Entwicklungsbericht 2002 des UNDP, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, feststellt. 57 Prozent der Weltbevölkerung leben heute in Demokratien, 1995 waren es nur 38 Prozent. Gleichzeitig konstatiert der Bericht allerdings: „Zwischen Demokratie und menschlicher Entwicklung besteht kein automatischer Zusammenhang.“ Die Ursache dafür sieht UNDP-Chef Mark Malloch Brown nicht nur darin, dass sich auch in formalen Demokratien oft nur die Eliten bereichern. Er kritisiert vor allem, dass sich die Weltpolitik fast ausschließlich auf die Märkte konzentriert und dabei die politische Dimension der menschlichen Entwicklung vergessen hat.

Auch in Europa entmachtet sich die Politik zunehmend selbst und überlässt das Ruder den großen Wirtschafts- und Finanzkonglomeraten. Keine politische Instanz stellt sich etwa Kraft Jacobs Suchard oder Nestlé in den Weg, die ihren Kakao von neunjährigen Kindersklaven in Westafrika ernten lassen. Kein Gesetz sanktioniert das Vorgehen des Bayer-Konzerns, der durch Rohstoffhandel einen Krieg in Afrika mitfinanziert, der bereits drei Millionen Menschenleben gekostet hat. Kein Gericht verurteilt Exxon oder die österreichische OMV, wenn sie das Weltklima aufs Spiel setzen oder Militärregime unterstützen.

Stattdessen setzen die Regierungen in den Absatzländern dieser Konzerne auf den guten Willen der Profiteure. Als die deutsche Industrielobby im Frühjahr ein ambitioniertes Verbraucherinformationsgesetz zu Fall brachte, das den Konsumenten das Recht einräumen sollte, mehr über die Herkunft von Produkten zu erfahren, resignierte sogar die sonst kämpferische Ministerin Renate Künast: „Dann setzen wir eben auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen.“ Diese Zauberformel, die nichts weniger bedeutet als die freiwillige Selbstverstümmelung der Politik, ist auch zum Mantra des Nachhaltigkeitsgipfels in Johannesburg erhoben worden.

Wer heute einen schönen Umwelt- und Sozialbericht schreibt oder sich in seinem „Code of Conduct“ gegen Kinderarbeit ausspricht, hat seine Pflicht gegenüber der Gesellschaft offensichtlich getan. So spricht sich etwa Nestlé-Chef Peter Brabeck generell gegen sanktionierbare Regeln für die Wirtschaft zum Schutz der Menschenrechte aus: „Wir tun das ohnehin alles freiwillig“, begründet er seine Abwehr. Genauso gut könnte man alle Bürger auffordern, freiwillig auf Diebstahl zu verzichten und im Gegenzug das Strafrecht abschaffen.

Unter Wirtschaftsethik versteht man heute vor allem, dass eine Firma einen Spielplatz für die Kinder der Mitarbeiter baut oder in Indien eine Schule errichtet. Aber als Pflicht gegenüber der Gesellschaft reicht dieser Ansatz nicht aus. Dass etwa Shell jedes Jahr 53 Millionen US-Dollar für Sozialprojekte in Nigeria ausgibt, hat ihm ein hervorragendes Image in westlichen Medien eingebracht. Shell hat dort nach Berechnungen der Betroffenen jedoch Schäden in der Höhe von weit über 10 Milliarden Dollar angerichtet und einen Lebens- und Wirtschaftsraum in der Größe von halb Bayern für Millionen von Menschen und viele Generationen zerstört. Wenn die Firma dort lokale Arbeitsplätze schaffen, Steuern zahlen und nach Standards agieren würde, die in Europa seit Jahrzehnten selbstverständlich sind, hätte sie sich alle ihre Sozialprojekte sparen können.

Generell ist es höchst fragwürdig, wenn sich Unternehmen karitativ betätigen. Die Aufgabe eines Wirtschaftsunternehmens ist es, Geschäfte zu machen. Es müssen allerdings faire Geschäfte sein. Wenn die Wirtschaft unfaire Geschäfte macht, müssen diese sanktioniert werden. Solange die Politik die originäre Aufgabe nicht wahrnimmt, Verstöße gegen die Grundrechte zu ahnden, werden das in zunehmendem Maß die Konsumenten und die Zivilgesellschaft machen, die zum Unterschied von der Politik jetzt schon global agieren und auf vielfältigste Weise zusammenarbeiten. Wenn wir unsere Lebensqualität, unsere Freiheit und unsere individuellen Entwicklungschancen erhalten wollen, müssen wir die Voraussetzungen dafür globalisieren: faire Regeln für das Zusammenleben der Menschen. Dahin müssen wir die Welt steuern.