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Südwind-Magazin: „Der gute Geist Mamas“

Warum es keine Frage war, dass Katrin Rohde eines Tages Familie und Besitz aufgab, um in Burkina Faso Mutter der Straßenkinder zu werden.

„Und dann war da auf einmal so ein riesengroßes Monster, mit glühenden Augen und Flügeln, sooo groß“, sagt Papa, „nein“, widerspricht Seydu, „sooooo groß“, und Papa sagt „ja, und da, da hat es Schuppen gehabt, und unten war es wie ein Pferd.“ Und? „Na und wir sind natürlich gerannt was geht, kannst dir denken“, sagt Petit Papa und zeichnet einen Strich in den Sandboden Richtung Ausgang. Und Seydu macht nur „Pssssch…“ und bewegt dabei den Kopf von links nach rechts, so schnell kannst gar nicht schauen wie schnell.

Dass Petit Papa und Seydu Gespenster sehen, kommt vor. Denn erstens sind Geister in Afrika ungefähr so gegenwärtig wie bei uns Mobiltelefone. Und zweitens haben die beiden Zehnjährigen schon Schlimmeres erlebt. Etwa, wie es ist, zwei Tage ohne Essen auszukommen, weil man sich wieder nichts erschnorrt hat. Oder weil einem das mühsam Erbettelte beim Schlafen in den Straßen Ouagadougous unterm Kopf weggestohlen oder, noch einfacher, von den Großen herausgeprügelt worden ist.

Deshalb kann der kleine Junge mit dem breiten Grinsen namens Traoré Mohammed, zu dem alle, niemand weiß warum, Papa sagen, nicht nur Fabelwesen bis ins kleinste Detail beschreiben. Genau so exakt kann er dir schildern, wie das ist, wenn du aufwachst und es ist nass und du merkst, dass du in einer Blutlache liegst, groß wie ein See, so dass du meinst darin zu ertrinken, und du drehst dich um und neben dir liegt ein Mann, der hat den Hals offen einen ganzen Spalt weit und da kommt das Blut raus, so viel Blut, und du weißt, dass jemand den Mann getötet hat, weil es ist nicht der erste getötete Mensch, den du gesehen hast, und du warst damals keine sechs, da kriegen andere Kinder die erste Schultüte.

Papa geht mittlerweile auch in die Schule. Nicht immer, denn manchmal fürchtet er sich einfach. Nicht vor dem Lehrer – Papa ist Klassenbester – und schon gar nicht vor den anderen Kindern, ha, sonst noch was! Aber wenn Papa wieder mal schlecht geträumt hat, verzieht er sich in eine Ecke und wartet auf Mama. Die nimmt in dann in den Arm und tröstet ihn. Oder ist einfach da. Seit vier Jahren ist Mama einfach da: für Petit Papa, für Seydu, und für knapp hundert weitere Kinder zwischen sechs und achtzehn, die hier am Stadtrand von Ouaga eine neue Heimat gefunden haben.

Mama, das ist Katrin. Katrin Rohde ist die Mama Kipsei, die „Mutter der Waisen“, wie sie in der Lokalsprache Moré genannt wird. Denn seit die 50jährige Deutsche vor fünf Jahren nach Burkina Faso gezogen ist, hat sie hier viele Kinder bekommen. Waisen, Halbwaisen und Straßenkinder, um die sich keiner gekümmert hat und die wie Petit Papa und Seydu auf unfassbare Lebensgeschichten zurückblicken: Hunger, Obdachlosigkeit, Kriminalität, Krankheit und Vergewaltigung.

Die Geschichte, die hier in der Stadt fast jeder kennt, klingt beinahe biblisch: Vor einem knappen Jahrzehnt noch besaß Katrin Rohde zwei gut gehende Buchhandlungen in Schleswig-Holstein. Auf einer Reise nach Burkina Faso brach sie an der Grenze mit Fieber zusammen. Der Zöllner nahm sie zu seiner Familie mit und pflegte sie mit Hilfe eines Medizinmannes gesund. Als Rohde nach Wochen wieder auf den Beinen war, wollte sie sich erkenntlich zeigen. Doch der Beamte erbat nicht mehr als den Gegenwert von hundert Schilling: für den Bau einer Schule im Dorf.

Rohde fuhr zurück nach Deutschland, sammelte Geld, baute damit die ganze Schule fertig und gleich noch eine. Schließlich verkaufte sie ihr ganzes Hab und Gut, um sich in Burkina Faso niederzulassen und in der Hauptstadt Ouagadougou der Straßenkinder anzunehmen.

Mit einem Bruttosozialprodukt von 230 US-Dollar zählt Burkina Faso zu den ärmsten Ländern der Welt. 1995 betrug die Auslandsverschuldung 1.267 Millionen Dollar. Die Lebenserwartung liegt bei 46 Jahren, eines von sechs Kindern stirbt vor seinem fünften Geburtstag. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten.

Seit Beginn der Neunziger steht Burkina Faso mehr oder weniger unter der Kuratel von Weltbank und Währungsfonds. Seitdem zeichnet sich ein ökonomischer Strukturwandel ab, der aber auch Opfer gekostet hat. Nur 20 Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Wasser, die Gesundheitsversorgung ist katastrophal. Vor allem Aids breitet sich ungebremst aus – die Rate der HIV-Infizierten liegt nach Angaben der WHO bereits bei über sieben Prozent. Landesweit haben mehr als 200.000 Kinder unter 15 ihre Eltern durch Aids verloren.

Staats- und Regierungschef ist Blaise Compaoré, der am 15. Oktober 1987 seinen ehemaligen Weggefährten, den legendären Revolutionär Thomas Sankara gestürzt hat. Offiziell ist Burkina Faso eine demokratische Präsidialrepublik. Oppositionsparteien und Gewerkschaften werfen dem autoritären Compaoré und seiner linksgerichteten Volksfront allerdings vor, Regimekritiker mithilfe der omnipräsenten Geheimdienste getötet zu haben und boykottieren die Wahlen, an denen sich zuletzt ohnehin nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben.

In diesem wenig komfortablen Umfeld hat Katrin Rohde aus dem staubigen Boden des Elendsviertels Sayri ihre Projekte gestampft. Neben den Müllhalden, von denen der Wind den fäkalienverseuchten Sand herüberträgt, der sich einem sofort in Nase und Augen festsetzt, errichtete sie ihr Kinderdorf: Hütten, eine Schule, eine Tischler- , eine Schneider- und eine Marionettenwerkstatt, eine Lehrküche mit Restaurant, Gebetsräume, ein Brunnen. „Managré Nooma“ heißt die Oase. So hieß das erste Kind, das Rohde auf der Straße aufgelesen hatte, und auf Moré bedeutet das: Das Gute geht nie verloren.

Sonst wehrt sich die Frau, die nicht die geringste Spur bemühten Gutmenschentums an sich hat, gegen alles Pathetische: „Ich mach das einfach“, sagt sie, und wenn man sich dann noch fragen traut, warum?, deutet sie auf ihre Kinder, „sieh sie dir an“, und dann traut man sich eh nicht mehr fragen.

So ist es auch nicht leicht, ihr zu entlocken, wie das denn damals genau war, als sie ihren erwachsenen Sohn und ihren damaligen Mann in Deutschland zurück gelassen hat, um überhaps nach Afrika zu gehen und dort auch noch zum Islam zu konvertieren. „Weil’s die bessere Religion für mich ist“, sagt Katrin, die seitdem auch Fatima heißt und der die Menschen an jeder Straßenecke der Millionenstadt „Haja“, Heilige, nachrufen. Warum die bessere Religion? „Sieh dir mal an, wie gut die Leute hier drauf sind, obwohl sie bis zum Hals in der Scheiße stecken“, warum fragt man eigentlich so blöd?

Im Sommer sind die ersten zwölf von Rohdes Kindern erwachsen geworden und müssen sich nun selbständig durchs Leben schlagen. „Neun haben eine feste Stelle – eine enorme Rate“, freut sie sich. Erst kürzlich hat sie das Kinderdorf um ein Areal für 40 Mädchen erweitert. Dem folgte eine Krankenstation, ein Mädchenberatungszentrum, eine Behinderten- und eine Rollstuhlwerkstatt sowie ein Selbsthilfeprojekt für Jugendliche. Eine gynäkologische Station ist im Aufbau – das Geld für all das muss von privaten Spendern aufgetrieben werden.

Mittlerweile helfen viele der älteren Jugendlichen selbst mit. Die „Mutter der Waisen“ hofft, irgendwann einmal das Ruder an eines ihrer Kinder übergeben zu können. Auch um Petit Papa sorgt sie sich jetzt weniger: „Neuerdings steht er morgens um sieben vor dem Tor und feuert die anderen an, damit keiner zu spät in die öffentliche Schule kommt.“ Letzte Woche wurde Papa nämlich zum Klassensprecher gewählt und trägt die neue Verantwortung mit sehr viel Würde. „Eins von den Kids wird einmal dieses Land regieren“, ist Katrin Rohde überzeugt. Keine Frage.

Infos: www.sahel.de