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Reisemagazin: „Wie Fliegen“

Onkel Gernot hat mir davon abgeraten. Onkel Gernot ist Tauchlehrer, und er hält nichts, nämlich rein gar nichts davon, dass irgendwelche Landratten sich Brille, Flossen und Sauerstoffflasche umbinden (Landratten glauben nämlich, dass Flaschentaucher Sauerstoff atmen, tun sie aber nicht, sie atmen Luft, was sonst) und einfach so mir nix dir nix abtauchen. Um einfach so mir nix dir nix abtauchen zu können, müsse man nämlich, meint Onkel Gernot, zuerst einmal ein, zwei Semester im Planschbecken absolvieren. Denn sonst, und jetzt kommt eine lange Liste ekelhafter Tauchunfälle, und dass ich ja nicht glauben soll, mit so einem Urlaubswischiwaschitauchkurs sei das so einfach getan. Sei es nämlich nicht. Eben.

Als ich dennoch verlautbare, mich ans Rote Meer begeben und mein Leben in die Hand einer örtlichen Tauchschule legen zu wollen, drückt mir Onkel Gernot einen Stapel Unterwassermagazine in die Hand: Dort und dort und dort seien die Tauchgründe am allerbesten, und dass er ja selbst gerne und am liebsten sofort … Die reine Offenbarung dürfte das Planschbecken ja nicht sein.

Am Flughafen von Sharm El Sheikh wartet schon Hussein mit seinem alten Peugeot 504: „Welcome to Sinai.“ So wie Hurghada auf der gegenüber liegenden Seite des Golfs von Suez, wo die Touristen in Massen zu Wasser gelassen werden, hat Sharm den Charme eines Strafgefangenenlagers: Stahlbeton und Sand. Weg hier.

Wir nehmen eine Abkürzung quer durch die Wüste auf die Hauptstraße nach Norden, vorbei an Beduinendörfern und hinein in die Berge der biblischen Halbinsel. Der höchste von ihnen ist mit 2637 Metern der Mount Sinai, den die Araber Gebel Moussa nennen. Hier hat Moses die zehn Gebote empfangen. Hier brannte jener Dornbusch, der heute noch im Hof von Sankt Katharina steht, dem ältesten Kloster der Welt. Und von hier stieg dieser Moses mit seinen Leuten herab, um sie ins Gelobte Land zu führen. Der Gott der Juden, Christen und Moslems ließ dafür sogar „das Meer austrocknen, und das Wasser spaltete sich. Die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand“ (Buch Exodus 14, 22-23).

Heute wäre soviel Aufhebens nicht mehr vonnöten. Seit man zweihundert Liter Luft in eine kleine Flasche aus Aluminium pressen kann, spaziert der Mensch auch ohne höhere Gewalt auf Meeresgrund.

Dahab, eine Autostunde von Sharm El Sheikh an der Ostküste des Sinai gelegen, ist eine der Einstiegspforten in die Welt unter Wasser. Der lebhafte Touristenort war noch in den Siebzigern ein Geheimtipp für Aussteiger und Abhänger. Zum Unterschied von den großen ägyptischen Tauchzentren mit Charterfluganbindung hat sich die Stadt ihren lokalen Charakter bewahrt. In den Teestuben zwischen den Souvenirshops sitzen die Männer in ihren langen Gewändern, den Galabayas, und ziehen an der Wasserpfeife. Ägypter und Beduinen stehen hier zwar alle im Dienst des Geschäfts mit den Fremden, man hat sich jedoch ganz offenkundig auf gegenseitige kulturelle Akzeptanz geeinigt. Und gar nicht wenige derer, die einst als Urlauber gekommen sind, haben sich niedergelassen und verdingen sich nun selbst als Touristenführer oder Tauchlehrer.

Eine von ihnen ist Gabi Pointner. Die Oberösterreicherin kam vor nunmehr sieben Jahren zum ersten Mal auf den Sinai, um auf einer Trekkingtour das Hinterland der Halbinsel mit seinen schroffen Felsen und abgelegenen Oasen zu erkunden. Auf der für eine Woche geplanten Reise lernte sie den Ägypter Khaled Amin kennen. Mit dem 36jährigen verbindet sie mittlerweile nicht nur das Unternehmen Sinai Adventures, sondern auch der vierjährige Sohn Anis.

Gabi ist unsere Tauchlehrerin. Zuerst werden Masken, Flossen, Anzug, Geräte und Gewichte verteilt. Und dann geht’s los. Nein, nicht ins Wasser, sondern ins Klassenzimmer. Physikunterricht, kein Scherz. Wenn ein Luftballon bei drei bar Druck einen Liter Volumen hat, wie viel hat er dann bei einem bar? Das geht noch. Aber dass man deswegen beim Auftauchen permanent atmen muss, um den Überdruck wieder los zu werden, weil es einem sonst die Lunge zerreißt, ist ein nicht unerhebliches Detail. Ebenso wie die Tatsache, dass sich in großen Tiefen Stickstoff aus der Atemluft löst. Wenn man zu schnell auftaucht, bildet der Stickstoff Blasen im Körper. Die Folge ist die lebensgefährliche Dekompressionskrankheit, die häufigste Ursache für Tauchunfälle. Die Opfer müssen so schnell wie möglich in eine sogenannte Dekompressionskammer gebracht werden, wo ein langsames Wiederauftauchen simuliert wird. Um das zu vermeiden, müssen wir ein spezielles Tabellensystem lernen, mit dem die erlaubten Tauchtiefen und die Verweildauer unter Wasser berechnet werden.

Dann wäre da noch der Tiefenrausch, der zwar lustig macht, aber das Hirn so vernebelt, dass man aufs Auftauchen vergisst. Dagegen ist etwa die Gefahr, von einem Hai mit Haut und Haar verspeist zu werden, vergleichsweise gering: Hier heißt es Ruhe bewahren, nicht füttern, nicht reizen und freundlich lächelnd das Feld räumen. Der Herr des Hauses ist nicht aggressiv, aber er hat es gern privat.

Der nächste Morgen beginnt mit dem Trockentraining – Anlegen und Prüfen der Ausrüstung. Tauchen ist wie der erste Ballbesuch: Man zwängt sich in einen viel zu kleinen Anzug, zieht viel zu große Schuhe an, wird nervös, hängt sich an die Flasche und torkelt durch die Gegend.

Dann geht’s ins Wasser. Vor dem Abtauchen werden noch einmal die vereinbarten Handzeichen gecheckt. Daumen und Zeigefinger zu einem O: Alles leiwand. Gabi hält den Daumen nach unten wie Cäsar im römischen Zirkus: Abwärts.

Tauchen ist wie Liftfahren: Man drückt den Knopf für runter, Luft strömt aus der Weste, man sinkt. Oder den für rauf, und sie füllt sich wieder: Auftrieb. Man nennt das Tarieren, und wir tarieren uns gemütlich schaukelnd drei Meter tiefer. Druckausgleich. Es funktioniert: wir leben noch.

Tauchen ist wie das richtige Leben: man atmet. Ein. Aus. Das ist, in Wahrheit, das Faszinierendste an der Sache. Und dass Tauchen wie Raumfahrt ist: Du drehst dich nach oben, nach unten, im luftleeren Raum. Viel schöner kann Fliegen auch nicht sein. Das einzige Geräusch: die eigene Atemluft, die aus der Flasche kommt und in tausend Blasen an die Wasseroberfläche entschwindet.

Nun wird geübt. Das Schwierigste ist Stillhalten. Nicht nur, weil die ersten neugierigen Fische antanzen und Fangen spielen wollen. Sondern auch, weil man sich erst daran gewöhnen muss, dass die eigene Lunge ein Luftballon ist, der einen nach oben zieht, wenn man ihn aufbläst. Nächste Übung: Wasser aus der Maske blasen. Dann Wechselatmung, für den Notfall: Wenn die Luft aus ist, muss der Tauchpartner mit dem Ersatzschlauch ran (Tauchen ist fast wie Radfahren). Zu guter letzt wird der Notaufstieg geprobt. Wir erinnern uns: Atmen, atmen, atmen, damit beim Druckabfall die Lunge keinen Schaden nimmt.

Endlich sind wir reif für the deep blue. Vier große Tauchgänge stehen am Programm: zwei in zwölf, zwei bis auf 18 Meter Tiefe. Völlig egal. Bereits nach fünf Metern ist dir klar: du willst da sicher nicht mehr raus, no way. Du beginnst die Flossenflügel zu schlagen und segelst über den Boden, über die Riffkante, darüber hinaus, hinunter. Neben dir fliegen bunte Papageienfische, um dich herum Fischschwärme, orange, blaue, kleine, große, leuchtende und stachelige.

Unter dir und über dir baumgroße Korallen, ganze Wälder in allen Farben und Formen. Aus einer Felshöhle reckt eine Muräne ihren Hals. Da reitet ein Seepferd. Klein, aufrecht, zerbrechlich. Überall dunkle Höhlen, belebte Felsen. Seeigel mit ellenlangen Stacheln. Plötzlich bewegt sich der Stein neben deiner Flosse: es war ein Steinfisch, der sich perfekt an seine Umgebung anpasst. Sogar die Schnecken sind hier unten mit hundert schimmernden Farben angemalt.

Du schaust den Fischen ins Fischauge: Hallo Fisch. (Wir treffen uns heut Abend beim Wirten). Du siehst das Große Blau unter dir und lässt dich fallen, es fängt dich auf. Du blickst hinauf: irgendwo dort oben leuchtet der Schein der Aquariumlampe. Jetzt sich in den Schatten des Korallenbaumes legen und ein kleines Nickerchen machen!

Gerätekontrolle. Nach einer dreiviertel Stunde unter Wasser zeigt der Flaschendruck 50 bar. Gabi gibt das Zeichen zum Auftauchen. In diesem Moment hasse ich sie. „Das Meer ist so nass, / weil die, die ihm entsteigen, / so viele Tränen vergießen“, könnte mal jemand dichten. Oder so.

Ich jedenfalls werde mich demnächst in voller Montur ins nächstgelegene Planschbecken begeben. Dort setze ich mich auf den Grund und atme. Ein. Aus. Das ist dann wie Tauchen.