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Der Standard: „Unterwegs mit der grünen Schildkröte“

Wer auf Komfort verzichtet und gerne unterwegs anderen Reisenden näherkommt, der kann mit den grünen Schlafbussen von „Green Tortoise“ Amerikas Naturwunder hautnah erleben.

„These guys never stop. Every now and then you have to yell for pisscall, otherwise you have to piss off the air, and hang on, brother, hang on.“
Jack Kerouac: On the road

Zuerst einmal erklärt Bill die Sache mit dem Pee-Stop: Wer immer ein kleines Bedürfnis verspüre, so der vollbärtige Zweihundert-Pfund-Mann auf dem Fahrersitz, möge dasselbe auf einer Skala von eins bis zehn nach Dringlichkeit beziffern. Ab „fünf“ werde er dann innerhalb der nächsten halben Stunde einen Rastplatz ansteuern, wo man sich Erleichterung verschaffen könne. Wenn innerhalb der nächsten halben Stunde ein Rastplatz erreichbar sei, fügt Bill lakonisch hinzu. Was auf einem kalifornischen Highway beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.

Bill ist einer der beiden Fahrer, die abwechselnd den grünen Sechziger-Jahre-Schulbus quer durch Kalifornien und die benachbarten Bundesstaaten steuern. Und seine Fahrgäste müssen nicht nur auf den Komfort einer Bordtoilette verzichten: Wer hier mitfährt, tut das gemeinsam mit dreißig anderen Menschen jeden Alters und unterschiedlichster Herkunft, die er zuvor noch nie gesehen hat, und mit denen er von der ersten Stunde an mehr oder weniger freiwillig intimen Kontakt pflegt. Denn die Reise mit dem San Franciscoer Unternehmen „Green Tortoise“ (zu deutsch: Grüne Landschildkröte), die, je nach Route, zwischen zwei Tagen und einem Monat dauern kann, wird Tag und Nacht gemeinsam verbracht. Gemeinsam, das heißt: Nachts sardinenartig, Kopf bei Fuß (Socken!), im fahrenden Bus schlafen, dessen Heck und Seiten zu einem Matratzenlager umfunktioniert werden. Untertags nicht nur bei der Zubereitung des Essens, sondern auch beim Abwasch mithelfen. Und statt einer Dusche mit kristallklaren, aber „bacherlwarmen“ Gewässern vorlieb nehmen müssen.

Der Lohn dafür: Morgen für Morgen direkt neben den imposantesten Naturschönheiten des Westens aufzuwachen – riesenhaften Bäumen, mächtigen Bergen, rauschenden Wasserfällen, heißen Quellen, glasklaren Vulkanseen und einsamen Meeresstränden. Doch nicht nur der Busen der Natur macht den Reiz von Green Tortoise aus: Viele der Abenteurer sind Alleinreisende, die sich auf diesem Weg – so oder so – näherkommen. Neben dem schon erwähnten Sockenkontakt bieten sich dazu vor allem die allabendlichen Lagerfeuerrunden, das brüderliche Teilen der Jack-Daniels-Flasche oder ein schlichtes „Darf ich dir mein Ruder borgen?“ beim Rafting an.

An die zwanzig verschiedenen „Trips“ kann man bei Green Tortoise buchen: Vom Wochenendausflug in den Yosemite-Nationalpark über zwei Wochen „Coast to Coast“ (San Francisco – New York) oder einen Monat Alaska bis zur „Southern Migration“ nach Mexiko oder Guatemala, wo manche gleich zum Überwintern hinfahren.

Die Idee zu diesem ungewöhnlichen Unternehmen hatte im Jahr 1974 dessen Gründer Kent Gardner, der eine kleine Flotte alter Schulbusse zu Schlafwagen umbaute und mittlerweile das einzige Unternehmen dieser Art in den USA leitet. Gardner selbst war mit einem umgebauten Bus im Wert von 600 Dollar nach Mexiko gereist und machte auf dem Rückweg in einer Hippiekommune nahe Sonoma City (Kalifornien) halt, wo er bald eine erkleckliche Anzahl loser Gesellen als Fahrgäste gewann. Aus der Idee, die Autostopper zu zahlenden Reisebegleitern und die Reise zu einer Tour von Nationalpark zu Nationalpark und von Hippiefestival zu Hippiefestival zu machen, wurde bald ein Geschäft. 1984 kaufte Gardner seinen einzigen Konkurrenten, den Alternativ-Grayhound „Gray Rabbit“ auf. Mittlerweile zählen 13 Busse, zwei äußerst komfortable Herbergen in San Francisco und Seattle, eine Pension in Costa Rica sowie ein Lagerplatz samt Wildbach und Sauna im Süden Oregons zum Inventar des Abenteuerkonzerns.

Hotel California

Das Wichtigste, erklärt Bill am Beginn des „California Loop“, der uns eine Woche lang durch Wüsten und Berge führen soll, sei der „Buddy Check“. Jeder solle sich mit zwei, drei Mitreisenden bekannt machen, deren Anwesenheit nach jedem Stop überprüft werden muß: Zu oft schon seien Leute nach einem Aufenthalt auf der Strecke geblieben – was in den Weiten des Westens leicht die Survival-Fähigkeiten des Unglücksraben auf die Probe stellen kann. Also wird’s gleich einmal gruppendynamisch. Etwa so: „I offer my buddy (oder doch body?) to any female being“. Der da zur Sache kommt, ist ein schottischer Spaßvogel, der uns noch an die Grenzen humoristischer Leidensfähigkeit führen wird.

Es beginnt die große Vorstellungsrunde (mein rechter Platz ist leer, wir erinnern uns): Mark aus Ostberlin, der in Yoga macht. Jeff, ein zwanzigjähriger Goldschmied aus Tucson, Arizona, der seit seiner Lehrzeit immer „auf Achse“ war und, mit einem kleinen Köfferchen Juwelierswerkzeug ausgestattet, seine Ware im Internet feilbietet. Sarah, die Krankenschwester aus London, die zum ersten Mal über den großen Teich geflogen ist und so verschreckt dreinschaut, als wäre sie im falschen Bus. Gleich eine Handvoll amerikanischer „Schriftsteller“, die mutmaßlich nach Dienstschluß bei Burger King für den Eigenverlag dichten. Eine Familie aus Japan, die im Heck die Köpfe flüsternd zusammensteckt. Caroline mit dem eingeflochtenen Zopf, die nächstes Jahr in Berkeley Friedensforschung belegen möchte. Und nicht zuletzt Commander John. John ist siebzig Lenze alt und hat mehrere davon in Korea an der Front verbracht. Er trägt eine Bomberjacke der Chicago Red Bulls und wird sich noch als liebenswerter Reisekamerad herausstellen, dessen wilde Jahre längst nicht vorbei sind.

Los geht’s. Den Highway N°5 hinauf, an der Westküste entlang. Irgendwann ist Tank- und Pee-Stop an einer riesigen Raststätte, wo in einem Supermarkt von der Fläche des halben Praters – ja, Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – der Proviant für den nächsten Tag in übermannsgroße Einkaufswägen geladen wird. Dann weiter. Und weiter, den Highway rauf.

In der Früh der erste Blick auf die Socken des Nachbarn. Der zweite aus dem Fenster auf einen Parkplatz. Der dritte: auf das mächtige, schneebedeckte Massiv des Mount Shasty. Wir sind auf zweieinhalbtausend Meter Meereshöhe, und der Berg noch einmal so hoch. Wahnsinn. „Get up guys, prepare the fuckin‘ breakfast!“ Bill hat eine direkte Art. Keiner kommt aus. „No slackers.“ Das Frühstück: Wahnsinn. Frische Heidelbeeromelette mit Ahornsirup. Hunderterlei Früchte. Dann Sandwiches, die sich als Dehnübung für Hand- und Kiefermuskulatur herausstellen, ich sage euch: solche Sandwiches. Da ist die halbe Jahresproduktion eines landwirtschaftlichen Mittelbetriebes drin. Und Kaffee, besser als der Ruf Amerikas.

Solcherart gestärkt und gerundet, wird der Berg genommen. Zumindest das erste Drittel. Schneeballschlacht, Gruppendynamik, Versöhnung. Dann geht’s weiter. Talwärts, nächstes Abenteuer.

Nach drei Stunden Fahrzeit eine andere Welt. Ein Wasserfall, der gut zehn Meter tief in den glasklaren Umpquafluß stürzt. Keine Menschenseele weit und breit. Wollten Sie auch immer schon wissen, was eigentlich hinter diesen großen Wasserfällen ist? Halten Sie sich die Ohren zu, wenn Sie das erkunden, es ist laut dort. Und kalt. Aber schauen Sie sich das an, es ist unbeschreiblich.

Apropos unbeschreiblich: Das ist jetzt überleitungsmäßig der Trick des Chronisten, einer kompletten Beschreibung all der noch folgenden Naturwunder zu entgehen. Es geht nicht. Es sind zu viele, und außerdem kriegt man da dieses Gefühl dabei. Dieses feeling, das nicht zuträglich ist, wenn man zwölf Flugstunden von Kalifornien entfernt ist. Dieses Gefühl am abendlichen Lagerfeuer etwa, wenn Bill die Gitarre auspackt und die alten Lieder von Einsamkeit und übermäßigem Whiskeykonsum und den daraus resultierenden Folgen für zwischenmenschliche Körperlichkeiten singt. Wenn einige Zuhörer plötzlich Lied und Realität nicht mehr auseinanderhalten können. Wenn auf einmal der Bus zu eng und dort hinter dem Mammutbaum doch noch ein Platzerl außer Hörweite frei wäre … Nein. Lassen wir das.

Erwähnen wir doch lieber einfach im Vorbeifahren den Crater Lake, den größten Vulkansee der Erde mit seinem kristallklaren Wasser, die heißen Quellen und den Schwefelgeruch, der sich danach im Bus breitmacht. Oder die Humboldtküste mit ihren Sandstränden und meterhohen Wellen und dem nahen Sequoiawald mit seinen Bären, die es auf die Nahrungsreserven der Touristen abgesehen haben. Erinnern wir uns kurz an den Trinity River mit seinen Stromschnellen, auf denen uns ein Raftingtrip Hören, Sehen und Wasserschlucken vergehen läßt. Machen wir Station am Cow Creek, wo wir in der Sauna ein letztes Mal die Abenteuer der letzten Tage wiederaufleben lassen. Öffnen wir noch eine letzte Dose „Bud“, denn über Nacht werden wir in San Francisco angekommen sein, ehe wir’s uns versehen haben.

Und ehe wir realisiert haben, daß dies der letzte Pee-Stop ist und noch schnell E-Mail-Adressen austauschen, tragen wir uns schon – in Gedanken oder im Green Tortoise Hostel – für den nächsten Trip ein. Nach Death Valley. In den Yosemite. Oder gleich nach Alaska oder Mexiko. Jump in, Buddy check!